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Jahresrückblick 2010

1. Worüber schwedische Medien berichteten

Das Jahr 2010 ist nun vorüber. Schweden hat sich weiter von einem Sozialstaat deutscher Prägung zu einer marktliberalen Gesellschaft angelsächsischen Musters entwickelt. Diese Umgestaltung wurde im Herbst durch die Wahl erneut legitimiert. Sicher, der bürgerliche Block regiert mit einer Minoritätsregierung, die von der Zustimmung der umstrittenen Schwedendemokraten abhängig ist. Dennoch sind die bürgerlichen Moderaten nun die stärkste politische Kraft im Lande - dass Sie bei der Wahl noch knapp hinter den Sozialdemokraten lag, ist darauf zurückzuführen, dass viele Sympathisanten der Moderaten einer der kleinen rechten Parteien wählten, die an der Vier-Prozent-Hürde zu scheitern drohten.

Das wichtigste Thema in diesem Zusammenhang war die "utförsäkring" ("Ausversicherung") zum 1. Januar 2010 - Langzeitkrankgeschriebenen wurde das Krankengeld gestrichen, sie sollten sich statt dessen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Wer sich erneut krankschreiben ließ, hat nun aufgrund mangelnder Anwartschaften kein Anspruch auf Krankengeld mehr. Besonders hart wurde das Gesetzt kritisiert, weil es sowohl Palliativpatienten betrifft (auch solche, die nur noch wenige Wochen zu leben haben), als auch Teilzeitkrankgeschriebene, die nun ihren Job aufgeben mussten, um beispielsweise an Bildungsmaßnahmen zum Thema "Wie funktioniert der Arbeitsmarkt" oder "Wie bewerbe ich mich" teilzunehmen. Eigentlich sollten die Krankgeschriebenen und Frührentner in den Arbeitsmarkt integriert werden. Das ist bis August des Jahres allerdings nur bei zwei Prozent der Betroffenen gelungen. Dies dürfte ungefähr der "normalen" Genesungsrate entsprechen. Dass die Regierung trotzdem an dem Konzept festhält und dabei einen großen Rückhalt in der Wählerschaft hat, mag für Außenstehende unverständlich erscheinen, entspricht aber der "etwas anderen" Art der Logik in dieser Gesellschaft. Soweit bekannt hat keine einzige deutsche Zeitung, Rundfunk- oder Fernsehanstalt dieses Thema aufgegriffen.

Auch in diesem Jahr ist keine Tür für eine obligatorische Arbeitslosenversicherung geöffnet worden. Vor allem die Moderaten sträuben sich dagegen. So bleibt es dabei, die A-Kassen werden weiterhin nach Branchen organisiert sein. Das heißt, eine Putzfrau zahlt ungefähr viermal so viel Beitrag wie ein Facharzt. Auch in Zukunft werden nur gut die Hälfte aller Arbeitslosen ein Recht auf ALG haben, da ja gerade Geringverdiener ein höheres Risiko haben, arbeitslos zu werden und genau diese Geringverdiener die höchsten Beiträge zahlen, obwohl sie am wenigsten in der Lage sind, derartige Beiträge zu entrichten. Solidarität auf Schwedisch. Auch das kein Thema für deutsche Medien.

Die selbst für schwedische Maßstäbe nicht gerade rationale Diskussion zum Thema Raubtiere hat zu einer Legalisierung der Wolfsjagd geführt. Der Bestand von gut 200 Tieren sollte um 10 Prozent dezimiert werden, offiziell um Inzucht zu vermeiden. Da keine von Inzucht bedrohten Individuen ausgewählt wurden, auch genetisch wertvolle Einwanderer nicht geschützt wurden, ist die schwedische Motivation für einen Europäer schwer verständlich. Die Durchführung der Jagd, die gerade hysterische Züge annahm, beleuchtet da eher, worauf sich diese Legalisierung der Raubtierjagd richtet. Die EU hat die Jagd hart kritisiert und prüft zur Zeit deren Legalität. Die deutschen Medien interessieren sich nicht dafür.

Jedes Jahr wandern um die 100.000 außereuropäische Migranten in Schweden ein. Die meisten von ihnen können nicht damit rechnen, eine Chance auf Integration zu bekommen. Viele Einwanderer landen in Plattenbausiedlungen, wo der Anteil der schwedischstämmigen Bevölkerung unter 5 Prozent liegt. Stadteile wie Stockholm-Rinkeby (17.000 Einwohner) oder Rosengård in Malmö (22.000 Einwohner, 62% Arbeitslosigkeit - sic!) sind schwedenweit bekannt für niedrige Bildungsabschlüsse und hohe Transferabhängigkeit. Hier wird Armut und Chancenlosigkeit generationsweise manifestiert, mit allem, was dazugehört. Schon den Sozialdemokraten ist es nicht gelungen, in dieser Frage politisch gegenzusteuern. Für die Bürgerlichen ist das kein Thema - sie befinden sich da in guter Gesellschaft mit den deutschen Journalisten in Schweden.

Auch unter der bürgerlichen Regierung haben sich im Gesundheitssystem die langen Wartezeiten und hohen Eigenbeteiligungen erhalten können. Offiziell wurden in einigen Provinzen die Wartezeiten verkürzt, weil sich viel Patienten "freiwillig" in separate Wartelisten haben registrieren lassen, welche nicht in der offiziellen Statistik erscheinen. So kann man auch Probleme lösen. Der Weltspiegel hat im März 2009 darüber berichtet. Ansonsten ist derlei kein Thema für die deutsche Berichterstattung.

Schweden setzt nun wieder auf Atomkraft. Obwohl die AKW weder Versorgungssicherheit garantieren (die Auslastung lag bei 63 Prozent) noch niedrige Energiepreise (die Strompreise in Schweden liegen ohne Steuern und Abgaben nur knapp unter deutschem Niveau, obwohl fast der gesamte Strom aus bereits abgeschriebenen AKW und Wasserkraftwerken stammt), hat auch hier die Regierung die volle Unterstützung der Bevölkerung. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien (EE) verläuft sehr dröge und beschränkt sich im Wesentlichen auf einzelne Großprojekte. Die stark exportorientierte schwedische Volkswirtschaft hat so mangels Binnennachfrage bereits den technologischen Anschluss an die Zukunftsbranche verpasst. Während in Deutschland im Bereich EE über 300.000 neue Arbeitsplätze entstanden sind, wurden in Schweden bisher schätzungsweise weniger als 10.000 Jobs bei den EE geschaffen. Auch dieses Thema war den deutschen Medien bisher kein Bericht wert.

Die Vorsitzende der schwedischen Sozialdemokraten ist zurückgetreten. Damit reagierte sie auf den freien Fall ihrer Partei in der Wählergunst. Die Sozialdemokraten sind erstmals seit Generationen nicht die stärkste Partei und drohen, in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Kein Land der Erde ist in den letzten Jahrzehnten so stark sozialdemokratisch geprägt worden und nicht zuletzt das Schwedenbild der Deutschen beruht ja auf einige sozialdemokratischen Errungenschaften in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Für die deutschen Medien ist die Partei bereits in der genannten Bedeutungslosigkeit gelandet - soweit bekannt gab es keine deutsche Berichte über den Rücktritt und die Krise der Sozen.

Usw. usf.

2. Worüber haben die deutschen Medien berichtet?

Wie bereits auf der Startseite erwähnt, wurde die königliche Hochzeit von vier deutschen Fernsehanstalten live übertragen. Ohne Zweifel war das auch in Schweden ein Thema, aber eben nicht das zentrale oder gar das einzige. Dem ZDF war im Dezember sogar die Frage, ob Prinzessin Victoria schwanger ist, ein Beitrag wert. Auch über die (angeblichen?) Eskapaden seiner königlichen Hoheit Karl 16. Gustav ist ausführlich berichtet worden. Man muss eben Prioritäten setzten können.

Es gab eigentlich nur zwei Themen, bei denen die deutsche Berichterstattung vom Umfang her der schwedischen Wahrnehmung entsprach. Zu einem waren das die Taten des Heckenschütze, der in Malmö Angst und Schrecken, vor allem unter Einwanderern, verbreitete. Der Mann ist inzwischen gefasst worden und offensichtlich nicht zurechnungsfähig. Das andere Thema hier ist der überwiegend missglückte Terroranschlag in Stockholm, bei dem der Attentäter sein Leben verlor, ohne andere Menschen in den Tod mitreißen zu können. Auch die deutsche Berichterstattung zur Wahl am 19. September kann quantitativ und qualitativ als adäquat bezeichnet werden. Dazu kommt noch die alljährlich stabile Berichterstattung über die Nobelpreisverleihungen.

Der Weltspiegel hat von der Mückenplage in Dalarna berichtet, bei dem sich die Lokalbevölkerung von den politisch Verantwortlichen in Stich gelassen fühlte, von asiatischen Beerenpflückern, die in Norrland um ihren Lohn geprellt wurden sowie von der vielleicht zukünftigen europäischen Raumfahrtbasis in Kiruna. Themen mit lokaler oder regionaler Bedeutung, aber vielleicht nicht so sehr im Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses in Schweden.

Das ZDF hat neben seiner Hofberichterstattung auch über die fragwürdige Rolle der schwedischen Justiz im Fall Wikileadgründers Assange berichtet und sogar einmal darüber, wie sich Östhammars Kommunen für die Ansiedlung eines atomaren Endlagers engagiert - "Gorleben bizarr".

Ansonsten nur royale Reporte und Berichte über zentrale Probleme wie einen Überfall auf IKEA und andere Trivialitäten, selbst von ehemaligen Qualitätsjournalisten.

Es ist zu hoffen, dass diese Liste über die deutsche Berichterstattung hochgradig unvollständig ist. Ergänzungen werden entgegengenommen und in diesen Beitrag eingearbeitet.

Sicherlich haben wir im deutschen Journalismus noch keine italienischen Verhältnisse. Aber der Weg zu solchen beginnt mit Voreingenommenheit, Desinteresse und Feigheit gegenüber den Medienkonsumenten und den verantwortlichen Redakteuren. Dies ist der erste Schritt zur Selbstzensur und damit zur Abschaffung des korrektiven Journalismus, der ja eigentlich Fehlentwicklungen benennen soll, um diesen begegnen zu können. Anstelle wird der Journalismus der freien Länder immer mehr selbst Träger gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Das ist mehr als bedauerlich und fordert mitbürgerliches Engagement. Daher wird es diese Seite und diesen Blogg im neuen Jahr geben. Wer hier eigenen Beiträge veröffentlichen oder seine Meinung in die Diskussion eintragen möchte, sei hier noch einmal herzlich dazu eingeladen.

 

 

© Sören Padel